Guten Abend.
Eines vorneweg: Ich habe mit analogen Konsolen und Outboard-Equipment mischen gelernt, d.h. an Hallerzeugung war (neben Ambient-Stereo-Mikrofonie) normalerweise ein REV7 (immer Preset 3: Drum Plate), ein Lexicon (224 od. 480) und ein Gerät von EMT (140 oder 250) vorhanden...und sonst nichts. Und auch wenn ich das Mischen mit DAWs wesentlich komfortabler, effektiver und auch inspirierender finde, benutz(t)e ich selbst bei großen Produktionen im DAW-Mix nicht mehr als 2-4 Hallgeräte, und zwar die UAD-Models der oben genannten Kisten....
Zum Thema Tiefenstaffelung:
Bevor wir uns überlegen, wie wir Tiefenstaffelung im Mix erzeugen, sollten wir erst mal überlegen, wie wir eigentlich räumliche Tiefe empfinden (ja, ich werde klugscheissen; ja, es ist ein KSM und kein "kauf das" oder "drück hier"...dahingehend habe ich mich nicht verändert
).
Was viele beim Mischen vollkommen ausblenden, ist, dass wir räumliche Tiefe in erster Linie NICHT über Laufzeitdifferenzen wahrnehmen, sondern über Pegeldifferenzen. Je lauter ein Signal ist, desto näher erscheint es. Hierzu ein Beispiel: Wenn man sich Hardrockbands der 80iger anhört, sind die Gitarren meist sehr trocken, während der Heldentenor in einem Kathedralenhall badet (meist noch mit einem Delay vornedran, damit der Raum richtig dreidimensional riesig wird). Und trotzdem wird der Gesang als vornestehend wahrgenommen....eben weil er mit entsprechenden Pegel gemischt wurde.
Wenn ich hier Pegeldifferenzen als Tiefenstaffelungswerkzeug nenne, dann sollte man nicht vergessen, dass das auch noch frequenzabhängig ist, d.h. mehr Pegel im Frequenzbereich der menschlichen Sprache (siehe auch Fletcher-Munson), desto weiter vorne. Auch hierzu ein Beispiel: Man nehme einen beliebigen Mix einer Rockband und such schmalbandig den Anschlag des Bassisten (also dieses knurrige Anschlagsgeräusch, je nach Bassist und Bass zwischen 600 und 2000 Hz). Wenn wir jetzt nur dieses schmale Band um 12 dB hochziehen, wird der Bass aus dem Hintergrund heraustreten und sich mit jedem 2 dB weiter nach vorne bewegen...egal ob irgendeine Rauminformation im Mix ist oder nicht.
Deshalb sollte der Mix schon vor dem Einsatz jeglichen Raumsimulators schon zumindest grob die gewünschte Tiefenstaffelung vorzeichnen (und wenn ich mal so ketzerisch sein darf: Eigentlich sollte schon das Arrangement des Stückes eine gewisse Tiefenstaffelung erzeugen, u.a. mit Gitarrenvoicings, die den Gesang tragen und ihn nicht erschlagen...)
Die von Ingolf beschriebene Arbeitsweise mit vielen verschiedenen Raumsimulatoren lässt mich ehrlich gesagt etwas ratlos zurück....wenn ich nämlich ein Hallgerät nicht als Soundelement für ein bestimmtes Instrument benutze (also z.B. besagten Kathedralenhall für den Sänger oder eine Plate für die Snare - beides Dinge, die nicht der Tiefenstaffelung, sondern der Soundmalerei dienen), sondern wirklich einen Raum erzeugen will, dann möchte ich doch (als Oldschooler), dass alle Bandmitglieder im SELBEN Raum sind. Denn wenn sie alle im selben Raum sind, ist die Tiefenstaffelung sehr einfach durch die Mischung Direktsignal/Hallsignal, die ich durch den jeweiligen Pegel des Aux-Sends in Relation zum Channel-Pegel bestimmte, zu erzeugen. Je mehr Hallsignal im SELBEN Raum bei entsprechend weniger Direktpegel, um so tiefer im Raum wird die Klangquelle abgebildet. Ich kann dann mit EQ-Einsatz auf dem Aux-Send bzw. mit einem Pre-Delay auf demselbigen noch Fine-Tuning betreiben, mehr aber nicht. Wenn die grundsätzliche Tiefenstaffelung durch Arrangement und Pegel fehlt, ist das nachträgliche Erstellen einer Tiefenstaffelung eine heftige (und für mich widerliche) Arbeit, weil man künstlich durch Technik versucht, der Musik eine dritte Dimension zu geben, die sie nicht hat (deshalb klingen so viele Produktionen auch so flach, obwohl da sicherlich mit heftigem FX-Einsatz gearbeitet wird).
Natürlich habe ich mit einer DAW (Rechenpower vorausgesetzt) die Möglichkeit, für jedes Instrument eine eigene Hallquelle zu nutzen und diese zusammenzumischen. Mir erscheint das aus den oben genannten Gründen als widersinnig, unmusikalisch, und zudem noch als potentiell fehlerbehaftet, da durch die vielen unterschiedlichen Verzögerungen auch noch Phasenverschiebungen entstehen können, die im heftigen Fall Kammfiltereffekte und Mittenaushölung bewirken können. Und ganz nebenbei verdoppelt das locker die Anzahl der zu mischenden Kanäle...und ich habe keinen 55-Zoll-Monitor....
Um das btw auch noch anzumerken: Bei großen Produktionen habe ich normalerweise jedes Instrument getrennt im großen Aufnahmeraum aufgenommen, dazu eine Ambient-Stereomikrofonie (meist ORTF) auf 2 zusätzlichen Spuren. Im Mix musste ich dann nur diese Ambient-Hallspuren entsprechend pegelmäßig dazufahren, um den perfekten Raumeindruck des Aufnahmeraums widerzugeben.....eine Technik, die (meines Wissens) auf Bruce Swedien zurückgeht: Man höre sich bei Gelegenheit die Birdland-Version vom Quiny Jones Album "Back on the block" an: Hier wurden exakt 0 Hallgeräte im Mix verwendet.
Natürlich ist diese Arbeitsweise im Homerecording (und heute auch bei vielen kommerziellen Produktionen) mangels geeignetem Raum nicht möglich. Aber wenn man einen guten Raumsimulator hat, kann man diese Arbeitsweise in der DAW nachbauen, indem man eben
eine FX-Spur mit dem gewünschten Raum füttert und dann jedes (!) Instrument per Aux-Send (über den gleichen Bus) auf diesen einen FX-Weg schickt....und mit dem Pegelverhältnis von Aux-Send zu trockenem Kanalsignal die Positon im Raum bestimmt.
Selbst bei Instrumenten, die mit einem Hall als Soundfarbe bestückt wurden (also z.B. Gesang, Snare, Sologitarren etc.) lohnt es sich, diese insgesamt (also mit dem FX) auf den Raumsimulator zu schicken und zu positionieren. Das klappt sehr gut, wenn man eben zwischen dem Hall als Soundfarbe des Instrumentes und dem Raumsimulator als Tiefenstaffelungswerkzeug unterscheidet. Stellt euch einfach einen Gitarristen vor, der den Hall seines Fender Twins weit offen hat (= Hall als Soundfarbe und nicht als Tiefenstaffelung); wenn ihr ihn an den Bühnenrand stellt, ist er ortungstechnisch ganz weit vorne...und stellt ihr ihn an die Saalwand, ist er entsprechend leiser (= Pegeldifferenz), die Laufzeitdifferenz ist höher, sprich: Er ist ganz hinten. Und bleibt es auch, wenn er seinen Amphall ausschaltet....
Wie gesagt: Ich bin oldschool. Vielleicht habe ich einfach in den letzten 5-6 Jahren eine bahnbrechende Entwicklung verschlafen...aber es ist imho schon schwer genug, mit
einem Raum eine gute Tiefenstaffelung ohne Laufzeitprobleme hinzubekommen, da mache ich es mir mit mehreren nicht absichtlich schwerer....insbesondere, wo doch die (frequenzabhängige) Pegelarbeit viel mehr bringt als der Kampf um +/- 10 ms Predelay...