Harmonielehre in der Praxis – die dunkle Seite ganz hell
Verfasst: Montag 2. April 2018, 21:05
Viel junge Padawane fürchten die Harmonielehre als Teufelswerk: Sie sei kompliziert und unmusikalisch, beraube einem des Feelings und überhaupt bräuchten nur die bösen Sith, die die üble Musik mit "J" machen, so Zeuch.
Dabei benutzt JEDER (ja, jeder) in diesem Forum Harmonielehre in der Praxis, und zwar ein sogar relativ komplexes harmonische Gebilde…eine "Tonika-Subdominant-Dominantverbindung mit statischen Dominant-Sieben-Akkorden und terz-alterierenden Pentatoniken"…..
Doch, benutzt ihr alle. Heißt in der Kurzform "Blues-Schema".
Und genau das ist der Punkt: Die meisten Leerwerke (kein Tippfehler) sind vollgepflastert mit pseudointellektuellem Kram, der vielleicht bei der Analyse von Orchesterwerken des Impressionismus recht wissenschaftlich klingt, aber mit der musikalischen Realität des geneigten Gitarristen relativ wenig zu tun hat. Dabei ist Harmonielehre ein wundervolles Werkzeug, das viele Dinge im musikalischen Leben ungemein erleichtert….
Ich möchte anhand des Bluesbeispiels mal zeigen, was Harmonielehre in der Praxis alles leisten kann:
- Musikalische Kommunikation: Wenn man mit anderen Musik macht, lässt es sich nicht vermeiden, hier und da vorab zu besprechen, was man macht. Der Harmonielehrenterminus "Blues in E" ist sehr hilfreich, denn jeder weiß was gemeint ist, man muss die Akkordfolge weder aufschreiben noch erklären und es ist auch noch (relativ) einfach darüber zu improvisieren, weil jeder die Akkordwechsel und die musikalische Form intus hat.
-> Und siehe da, es gibt noch mehr solche Formen…die haben zwar komische Namen wie "2-5-1" oder "Turnaround", aber wenn jeder der Mitmusiker diesen Terminus kennt, lässt sich ohne viel Aufhebens zusammen Musik machen.
- Erleichtertes Raushören und Merken: Wenn man zusammenhängende musikalische Gebilde wie ein Blues-Schema oder einen Turnaround (er)kennt, muss man nicht Ton für Ton raushören, sondern hört gleich das ganze musikalische Element raus. Man muss sich auch nicht die einzelnen Töne merken …man merkt sich nur die jeweiligen Elemente und reproduziert dieselbigen. Ebenso ist es mit Soli und Melodien: Hat man analysiert und begriffen, dass man da nur eine bestimmte Skala auf eine bestimmte Art spielt, muss man sich eben nicht jeden einzelnen Ton merken, sondern kann eine Menge Zeuch in einer Art musikalischem "Ordner" zusammenfassen.
Haben wir in unserem Bluesbeispiel einen Lauf, der die Blues-Skala einfach von oben nach unten enthält, merkt man sich nicht die einzelnen Töne, sondern eben das ganze Element: "Bluesskala von oben nach unten"
- Besseres Verständnis der Helden: Wenn man wie der hochverehrte Gitarrist X klingen will, hilft die Kopie dessen Equipments nur wenig, und auch die reine Reproduktion seiner Licks will nicht wirklich befriedigen. Besser ist es, eine sogenannte "Style Study" zu machen (das ist eine meiner Hauptaufgaben als Gitarrenlehrer – und ich werde hier sicherlich auch ein paar Kostproben von Style Studies klugscheissen). Bei dieser Analyse ergründet man u.a. das Tonmaterial, das unser Gitarrenheld spielt und vor allem, wie er damit umgeht, d.h. welche Töne er wie bevorzugt spielt. Ohne Harmonielehre ist es ziemlich schwer, diese Analyse vorzunehmen; und es ist ohne harmonisches Verständnis fast unmöglich, diese Analyse in das eigene Spiel zu integrieren, d.h. die Erkenntnisse über Gitarrist X zu nutzen, um einen eigenen Stil zu entwickeln, der aus den Stilistiken aller meiner Helden emuliert wird.
In unserem Bluesbeispiel merkt der geneigte Padawan, dass wenn er die "Dur"-Pentatonik spielt, sich das Ganze nach BB King anhört…und wenn er mixo spielt, nach Robben Ford…
- Die Möglichkeit, zu blenden und zu bescheissen: Es gibt diese Tage, an denen man die Musikalität beim Aufstehen im Bett gelassen hat…dumm nur, wenn man an diesem Tag einen Gig hat. Noch blöder, wenn es ein Söldnergig ist und man das ein oder andere Stück gar nicht kennt. Trotzdem kann man mit praktischer Anwendung von Harmonielehre unfallfrei durchkommen, wenn man in den Akkorden oben genannte Zusammenhänge erkennt und einfach reproduziert und sich bei Soli an den Akkordtönen entlang hangelt.
Anders gesagt: Praktische Harmonielehre ist etwas für Leute, die zu faul zum auswendig lernen sind, und stattdessen etwas Verständnis von Strukturen benutzen. Sie ist etwas für Leute, die schnelle Erfolge beim Raushören haben wollen, und das durch Erkennen ganzer Passagen erreichen. Praktisch angewendete Harmonielehre kann dabei helfen, problemfrei von BB King-Sound zum Gary-Moore-sound-alike zu wechseln. Und natürlich hilft sie ungemein, deutlich besser zu klingen als man eigentlich ist.
Allerdings gibt es ein Problem: Praktische Harmonielehre kann man nur von Praktikern lernen. Und die sind leicht zu erkennen:
- Bevor ihr ein Buch über Harmonielehre kauft, hört euch erst mal den Autor an…und wenn euch nicht gefällt, wie der Autor spielt, braucht ihr auch sein Buch nicht….
- Komplizierte Konzepte funktionieren nicht, denn sie sind kompliziert zu hören. Einfache Konzepte sind leicht zu hören, aber extrem schwierig zu entwickeln (komplizierte Jazzgitarristen gibt es wie Sand am Meer, aber es gibt nur einen Wes M.).
- Gute (=praxisbezogene) harmonische Konzepte enthalten auch rhythmische Bestandteile, d.h. es ist nicht nur wichtig, was man spielt (und warum), sondern vor allem WANN.
Vielleicht mag dieses kleine Pamphlet den ein oder anderen Padawan dazu bringen, Harmonielehre nicht mehr als die reine Verkörperung der dunklen Seite der Macht anzusehen…sondern einfach als das, was sie wirklich ist: Ein Werkzeug, das den Weg zum Ziel verkürzen kann, ihn aber auf jeden Fall einfacher macht.
Dabei benutzt JEDER (ja, jeder) in diesem Forum Harmonielehre in der Praxis, und zwar ein sogar relativ komplexes harmonische Gebilde…eine "Tonika-Subdominant-Dominantverbindung mit statischen Dominant-Sieben-Akkorden und terz-alterierenden Pentatoniken"…..
Doch, benutzt ihr alle. Heißt in der Kurzform "Blues-Schema".
Und genau das ist der Punkt: Die meisten Leerwerke (kein Tippfehler) sind vollgepflastert mit pseudointellektuellem Kram, der vielleicht bei der Analyse von Orchesterwerken des Impressionismus recht wissenschaftlich klingt, aber mit der musikalischen Realität des geneigten Gitarristen relativ wenig zu tun hat. Dabei ist Harmonielehre ein wundervolles Werkzeug, das viele Dinge im musikalischen Leben ungemein erleichtert….
Ich möchte anhand des Bluesbeispiels mal zeigen, was Harmonielehre in der Praxis alles leisten kann:
- Musikalische Kommunikation: Wenn man mit anderen Musik macht, lässt es sich nicht vermeiden, hier und da vorab zu besprechen, was man macht. Der Harmonielehrenterminus "Blues in E" ist sehr hilfreich, denn jeder weiß was gemeint ist, man muss die Akkordfolge weder aufschreiben noch erklären und es ist auch noch (relativ) einfach darüber zu improvisieren, weil jeder die Akkordwechsel und die musikalische Form intus hat.
-> Und siehe da, es gibt noch mehr solche Formen…die haben zwar komische Namen wie "2-5-1" oder "Turnaround", aber wenn jeder der Mitmusiker diesen Terminus kennt, lässt sich ohne viel Aufhebens zusammen Musik machen.
- Erleichtertes Raushören und Merken: Wenn man zusammenhängende musikalische Gebilde wie ein Blues-Schema oder einen Turnaround (er)kennt, muss man nicht Ton für Ton raushören, sondern hört gleich das ganze musikalische Element raus. Man muss sich auch nicht die einzelnen Töne merken …man merkt sich nur die jeweiligen Elemente und reproduziert dieselbigen. Ebenso ist es mit Soli und Melodien: Hat man analysiert und begriffen, dass man da nur eine bestimmte Skala auf eine bestimmte Art spielt, muss man sich eben nicht jeden einzelnen Ton merken, sondern kann eine Menge Zeuch in einer Art musikalischem "Ordner" zusammenfassen.
Haben wir in unserem Bluesbeispiel einen Lauf, der die Blues-Skala einfach von oben nach unten enthält, merkt man sich nicht die einzelnen Töne, sondern eben das ganze Element: "Bluesskala von oben nach unten"
- Besseres Verständnis der Helden: Wenn man wie der hochverehrte Gitarrist X klingen will, hilft die Kopie dessen Equipments nur wenig, und auch die reine Reproduktion seiner Licks will nicht wirklich befriedigen. Besser ist es, eine sogenannte "Style Study" zu machen (das ist eine meiner Hauptaufgaben als Gitarrenlehrer – und ich werde hier sicherlich auch ein paar Kostproben von Style Studies klugscheissen). Bei dieser Analyse ergründet man u.a. das Tonmaterial, das unser Gitarrenheld spielt und vor allem, wie er damit umgeht, d.h. welche Töne er wie bevorzugt spielt. Ohne Harmonielehre ist es ziemlich schwer, diese Analyse vorzunehmen; und es ist ohne harmonisches Verständnis fast unmöglich, diese Analyse in das eigene Spiel zu integrieren, d.h. die Erkenntnisse über Gitarrist X zu nutzen, um einen eigenen Stil zu entwickeln, der aus den Stilistiken aller meiner Helden emuliert wird.
In unserem Bluesbeispiel merkt der geneigte Padawan, dass wenn er die "Dur"-Pentatonik spielt, sich das Ganze nach BB King anhört…und wenn er mixo spielt, nach Robben Ford…
- Die Möglichkeit, zu blenden und zu bescheissen: Es gibt diese Tage, an denen man die Musikalität beim Aufstehen im Bett gelassen hat…dumm nur, wenn man an diesem Tag einen Gig hat. Noch blöder, wenn es ein Söldnergig ist und man das ein oder andere Stück gar nicht kennt. Trotzdem kann man mit praktischer Anwendung von Harmonielehre unfallfrei durchkommen, wenn man in den Akkorden oben genannte Zusammenhänge erkennt und einfach reproduziert und sich bei Soli an den Akkordtönen entlang hangelt.
Anders gesagt: Praktische Harmonielehre ist etwas für Leute, die zu faul zum auswendig lernen sind, und stattdessen etwas Verständnis von Strukturen benutzen. Sie ist etwas für Leute, die schnelle Erfolge beim Raushören haben wollen, und das durch Erkennen ganzer Passagen erreichen. Praktisch angewendete Harmonielehre kann dabei helfen, problemfrei von BB King-Sound zum Gary-Moore-sound-alike zu wechseln. Und natürlich hilft sie ungemein, deutlich besser zu klingen als man eigentlich ist.
Allerdings gibt es ein Problem: Praktische Harmonielehre kann man nur von Praktikern lernen. Und die sind leicht zu erkennen:
- Bevor ihr ein Buch über Harmonielehre kauft, hört euch erst mal den Autor an…und wenn euch nicht gefällt, wie der Autor spielt, braucht ihr auch sein Buch nicht….
- Komplizierte Konzepte funktionieren nicht, denn sie sind kompliziert zu hören. Einfache Konzepte sind leicht zu hören, aber extrem schwierig zu entwickeln (komplizierte Jazzgitarristen gibt es wie Sand am Meer, aber es gibt nur einen Wes M.).
- Gute (=praxisbezogene) harmonische Konzepte enthalten auch rhythmische Bestandteile, d.h. es ist nicht nur wichtig, was man spielt (und warum), sondern vor allem WANN.
Vielleicht mag dieses kleine Pamphlet den ein oder anderen Padawan dazu bringen, Harmonielehre nicht mehr als die reine Verkörperung der dunklen Seite der Macht anzusehen…sondern einfach als das, was sie wirklich ist: Ein Werkzeug, das den Weg zum Ziel verkürzen kann, ihn aber auf jeden Fall einfacher macht.