Re: Harmonielehre in der Praxis – die dunkle Seite ganz hell
Verfasst: Dienstag 3. April 2018, 14:40
Zunächst freue ich mich sehr, dass dieses Thema zu einer fruchtbaren Diskussion geführt hat, das ist fein.
Ich merke aber, dass es mir nicht ganz gelungen ist, das rüberzubringen, was ich eigentlich sagen wollte...
Mit p r a k t i s c h er Harmonielehre meine ich nicht das ganze musiktheoretische Zeug. Ich sitze nicht beim Spielen da und denke "hm, da steht ein C7, da kann ich ja die Tritonussubstitution spielen und wegen dem Grundton der V. Stufe noch die b9 oben drauf setzen". Nein, genau wie ich beim Blues intuitiv höre, dass ich mit der blue note Spannung erzuegen kann, genau so spiele ich einfach einen f#7b9, ohne mir Gedanken zu machen, warum...er gehört einfach zu meinem Vokabular wie eine Blues-Skala, ich weiß, wie das Ding da klingt und wie ich es greifen muss, dass es klingt. Die musktheoretische Begründung dafür ist mir persönlich wurscht (ich spiele auch viele Dinge, die klingen, die man musiktheoretisch nicht spielen darf....). Und irgendwann in grauer Vorzeit habe ich mal gelernt, was eine Blue Note ist und wie sie klingt...und genau so kann man lernen, wie man mehr Spannung aus einem dom7-Akkord holt, und dann kann man es genau so intuitiv anwenden (=praktische Harmonielehre). Aber irgendwann vorher muss ich es gelernt haben...
Anderes Beispiel: Ich denke nicht "bei dieser Progression in a-Moll kommt erst die Tonika, dann die parallele Dur-Dominate gefolgt von der parallelen Dur-Subdominate und zum Schluß die Dominante als harmonisch-Moll-Alteration", sondern ich denke: Ha, das kenn ich: am-G-F-E7. Und weil ich das kenne, brauche ich mich nicht mehr um meine Motorik für jeden Akkord zu kümmern, sondern kann einfach die ganze Kadenz abfeuern...und zwar je nach Stil (bzw. je nach Kommunikationsgrundlage der Mitmusikanten) in einem der 8 Voicings, die ich für diese Kadenz als Vokabular habe. Diese Voicings habe ich vor dutzenden Jahren natürlich mal entwickelt und erlernt...und jetzt sind sie genau so natürlich wie ein Wander-C-Dur-Griff...damals mit theoretischer Harmonielehre erstellt und gelernt, ins Vokabular übergegangen und jetzt jederzeit als Werkzeug der praktischen Harmonielehre anwendbar.
ANDERS GESAGT:
Wenn man Harmonielehre praxisbezogen übt, d.h. oft auftretende Sachverhalte wie z.B. die oben geschilderte am-G-F-E7 als eine Vokabel sieht, verschiedene Voicings dafür übt und deren Sound im Kopf hat, kann deutlich freier und vor allem zielgerichteter begleiten als derjenige, der die Akkorde ohne jeglichen Zusammenhang in den immer gleichen Voicings runterspielt.
Genauso ist es mit Single Note Sachen: Ich kenne viele Leute, die sich ein paar Licks ihrer Lieblingsgitarristen draufgeschafft haben, ohne aber zu wissen, warum das Zeug so klingt, wie sie es mögen. Das begrenzt dann den Lick auf genau den Kontext, in dem er von dem Star gespielt wurde. Das ist schade, denn sobald wir veränderte musikalische Bedingungen haben (andere Tonart/Groove/Geschwindigkeit etc.) wird durch unangepasstes Repetieren besagten Licks ziemlich offensichtlich, dass wir den musikalischen Wert diese Licks nicht erfasst haben, sondern einfach nur die Finger die Arbeit tun lassen.
Und das ist sehr schade. Wenn man nämlich ein wenig analysiert, warum der Lick einem gefällt, was er denn mit den zugrunde liegenden Akkorden tut, wie er rhythmisch phrasiert ist, kann man ihn an viele Situationen anpassen...und vielleicht sogar mit eigenen Ideen modifizieren, dem eigenen Feeling und der eigenen Persönlichkeit anpassen. Es gibt ein paar Licks von Saul Hudson (nach wie vor einer meiner absoluten Lieblingsgitarristen), die ich eben nicht nur im Hardrock-Kontext spiele, sondern auch gerne swinge und die über die Jahre bis zur Unkenntlichkeit ihres Ursprungs "verpfälzert" wurden...und trotzdem sind es Slash-Licks, auch wenn ich sie über "Revelation" in der Robben Ford Version spiele....
Die Arbeit, dorthin zu kommen, bedarf der Analyse, und da hilft die theoretische Harmonielehre. Aber das Zeug dann beim Gig aus dem Ohr und dem Feeling heraus punktgenau passend auf den musikalischen Kontext abzufeuern, das ist (für mich) praktische Harmonielehre. Und wenn der geneigte Padawan das mit einer Blues-Penta kann, dann klappt das mit ein wenig Üben ( Jehova ) und eventuell ein wenig Unterricht auch mit anderen Dingen....
Worauf ich eigentlich hinaus will (juhu, nach tausend Worten kommt er auf den Punkt): Es lohnt, sich mit Harmonielehre zu beschäftigen. Aber NICHT als theoretisches Zeuch, sondern immer mit dem Ziel, ein praxistaugliches Werkzeug daraus zu machen. Und das wird einfacher, wenn man sich an Praktiker und nicht an Theoretiker hält (z.B. empfinde ich etwa 2/3 eines sehr bekannten doppelbändigen Harmonielehrenwerks aus deutschen Landen für vollkommen unnötig, weil für die Praxis des geneigten Gitarristen vollkommen irrelevant...dafür fehlen viele Dinge, die zumindest für mich extrem relevant sind...).
Ich merke aber, dass es mir nicht ganz gelungen ist, das rüberzubringen, was ich eigentlich sagen wollte...
Mit p r a k t i s c h er Harmonielehre meine ich nicht das ganze musiktheoretische Zeug. Ich sitze nicht beim Spielen da und denke "hm, da steht ein C7, da kann ich ja die Tritonussubstitution spielen und wegen dem Grundton der V. Stufe noch die b9 oben drauf setzen". Nein, genau wie ich beim Blues intuitiv höre, dass ich mit der blue note Spannung erzuegen kann, genau so spiele ich einfach einen f#7b9, ohne mir Gedanken zu machen, warum...er gehört einfach zu meinem Vokabular wie eine Blues-Skala, ich weiß, wie das Ding da klingt und wie ich es greifen muss, dass es klingt. Die musktheoretische Begründung dafür ist mir persönlich wurscht (ich spiele auch viele Dinge, die klingen, die man musiktheoretisch nicht spielen darf....). Und irgendwann in grauer Vorzeit habe ich mal gelernt, was eine Blue Note ist und wie sie klingt...und genau so kann man lernen, wie man mehr Spannung aus einem dom7-Akkord holt, und dann kann man es genau so intuitiv anwenden (=praktische Harmonielehre). Aber irgendwann vorher muss ich es gelernt haben...
Anderes Beispiel: Ich denke nicht "bei dieser Progression in a-Moll kommt erst die Tonika, dann die parallele Dur-Dominate gefolgt von der parallelen Dur-Subdominate und zum Schluß die Dominante als harmonisch-Moll-Alteration", sondern ich denke: Ha, das kenn ich: am-G-F-E7. Und weil ich das kenne, brauche ich mich nicht mehr um meine Motorik für jeden Akkord zu kümmern, sondern kann einfach die ganze Kadenz abfeuern...und zwar je nach Stil (bzw. je nach Kommunikationsgrundlage der Mitmusikanten) in einem der 8 Voicings, die ich für diese Kadenz als Vokabular habe. Diese Voicings habe ich vor dutzenden Jahren natürlich mal entwickelt und erlernt...und jetzt sind sie genau so natürlich wie ein Wander-C-Dur-Griff...damals mit theoretischer Harmonielehre erstellt und gelernt, ins Vokabular übergegangen und jetzt jederzeit als Werkzeug der praktischen Harmonielehre anwendbar.
ANDERS GESAGT:
Wenn man Harmonielehre praxisbezogen übt, d.h. oft auftretende Sachverhalte wie z.B. die oben geschilderte am-G-F-E7 als eine Vokabel sieht, verschiedene Voicings dafür übt und deren Sound im Kopf hat, kann deutlich freier und vor allem zielgerichteter begleiten als derjenige, der die Akkorde ohne jeglichen Zusammenhang in den immer gleichen Voicings runterspielt.
Genauso ist es mit Single Note Sachen: Ich kenne viele Leute, die sich ein paar Licks ihrer Lieblingsgitarristen draufgeschafft haben, ohne aber zu wissen, warum das Zeug so klingt, wie sie es mögen. Das begrenzt dann den Lick auf genau den Kontext, in dem er von dem Star gespielt wurde. Das ist schade, denn sobald wir veränderte musikalische Bedingungen haben (andere Tonart/Groove/Geschwindigkeit etc.) wird durch unangepasstes Repetieren besagten Licks ziemlich offensichtlich, dass wir den musikalischen Wert diese Licks nicht erfasst haben, sondern einfach nur die Finger die Arbeit tun lassen.
Und das ist sehr schade. Wenn man nämlich ein wenig analysiert, warum der Lick einem gefällt, was er denn mit den zugrunde liegenden Akkorden tut, wie er rhythmisch phrasiert ist, kann man ihn an viele Situationen anpassen...und vielleicht sogar mit eigenen Ideen modifizieren, dem eigenen Feeling und der eigenen Persönlichkeit anpassen. Es gibt ein paar Licks von Saul Hudson (nach wie vor einer meiner absoluten Lieblingsgitarristen), die ich eben nicht nur im Hardrock-Kontext spiele, sondern auch gerne swinge und die über die Jahre bis zur Unkenntlichkeit ihres Ursprungs "verpfälzert" wurden...und trotzdem sind es Slash-Licks, auch wenn ich sie über "Revelation" in der Robben Ford Version spiele....
Die Arbeit, dorthin zu kommen, bedarf der Analyse, und da hilft die theoretische Harmonielehre. Aber das Zeug dann beim Gig aus dem Ohr und dem Feeling heraus punktgenau passend auf den musikalischen Kontext abzufeuern, das ist (für mich) praktische Harmonielehre. Und wenn der geneigte Padawan das mit einer Blues-Penta kann, dann klappt das mit ein wenig Üben ( Jehova ) und eventuell ein wenig Unterricht auch mit anderen Dingen....
Worauf ich eigentlich hinaus will (juhu, nach tausend Worten kommt er auf den Punkt): Es lohnt, sich mit Harmonielehre zu beschäftigen. Aber NICHT als theoretisches Zeuch, sondern immer mit dem Ziel, ein praxistaugliches Werkzeug daraus zu machen. Und das wird einfacher, wenn man sich an Praktiker und nicht an Theoretiker hält (z.B. empfinde ich etwa 2/3 eines sehr bekannten doppelbändigen Harmonielehrenwerks aus deutschen Landen für vollkommen unnötig, weil für die Praxis des geneigten Gitarristen vollkommen irrelevant...dafür fehlen viele Dinge, die zumindest für mich extrem relevant sind...).