Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Praxis

Die dunkle Seite der Macht
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Batz Benzer
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Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Praxis

Beitrag von Batz Benzer » Mittwoch 6. Februar 2019, 10:11

Liebe Budenbewohner,

jedes Mal, wenn hier oder auch in vorigen Foren Musiktheorie diskutiert wird, fällt mir ein Phänomen auf, welches ich an dieser Stelle mal zu umreißen versuche:

Es kommt eine Frage zur Theorie auf. Meist wird sie beantwortet.

Dann kommen die Stimmen, die sagen, dass das ja komplett egal sei. Oder die erwähnen, dass es darum nicht ginge, sondern um den kreativen Moment, in dem ja alles erlaubt sei; der Künstler habe sich in dem Moment ja bestimmt keine Gedanken um Regeln gemacht. Was sich für mich häufig ein wenig trotzig (wie das Beharren auf "Dieser geht bis '11'!") liest, was ich nicht verstehen kann.

Denn: Es gibt hier überhaupt keinen Dissens!

Die Musikwissenschaft ist eine Wissenschaft, die keine eigenen Inhalte generiert, sondern das Tun und Schaffen von Musikern analysiert und erklärt. Soll heißen: Der Musiker ist der Chef; was er macht, gilt. Die Wissenschaft beobachtet und erklärt das.

Eine Analogie wären z.B. Naturphänomene wie heftiger Hagel, starkes Gewitter oder Regenbögen. Solche wurden früher gerne instrumentalisiert, um Menschen Zeug einzureden: Gottes Rache für Fehlverhalten, Glückssymbol oder Belohnung für wasauchimmer und so weiter. Dann wurden sie entmystifiziert, indem man sie erklären konnte. Eine solche Erklärung ändert aber nichts daran, dass solche Phänomene wunderbar sind; ihrer Schönheit kann das nichts anhaben, und da uns die Letztbegründung fehlt, warum das überhaupt alles IST, bleibt auch immer etwas mythischer Raum übrig.

Übrigens analog zur Frage, woher diese kreativen Ideen denn bitteschön überhaupt kommen; das wird in der Musiktheorie immer mystisch bleiben.

Ob nun jemand instinktiv oder bewusst komponiert, kann uns ebenfalls vollkommen latte sein. Großartig, wenn jemand beides gleichzeitig beherrscht: Dinge geschehen lassen, aber gleichzeitig kanalisieren kann (mir fiele hier Bach als Beispiel ein). Egal. Denn: Die Musikwissenschaft generiert keine Regeln, an die sich gefälligst alle zu halten haben. Sie erklärt, was Künstler (oder Musikhandwerker) tun. Und passt diese Regeln jedem neuen Phänomen an. Sie ist Bewusstmachung, keine Vorgabe.

Das muss den Musiker auch überhaupt nicht kümmern. Nur sollte es ihn bitte auch nicht stören. Es geschieht ihm ja kein Leid, nur weil jemand anderes die andere Seite der Medaille betrachten oder utilisieren möchte.

Ist so wie bei Equipment: Für den einen ist es das Mittel zum Zweck, für den anderen Inhalt seines Interesses. Für den dritten sind Instrumente vielleicht Kunstobjekte, die er sammelt und verehrt, ohne sie spielen zu können. Können nicht alle "Recht" haben? Wer wirft hier den ersten Stein...?

Der Grund hinter den Fragen und Antworten der Musikwissenschaft ist also nicht das Berauben der Wunderbarkeit, sondern das Verstehen. Somit kann sie (muss aber keinesfalls) als Hilfsmittel agieren, mit anderen Musik zu machen. Ein Beispiel: Wenn ich einen 4-Chord-Song als solchen erkenne, kann ich ihn sofort in jeder Tonart mitspielen, ohne ihn auswendig lernen zu müssen. In solchen Momenten ist es hilfreich, hinter die Fassade blicken zu können, um zu schauen, wie es generell funktioniert, aber eben nicht nötig. Das ändert nichts am Lied, es bleibt genau so schön oder blöd für den Betrachter.

Bisweilen beinhaltet es auch einen Mehrwert: Wenn man bei Bach sieht, dass ein Stück vorwärts wie rückwärts gespielt werden kann und dasselbe ist, Cohens "Hallelujah" im Text das musikalische Gerüst gleichzeitig umreißt ("...it goes like this, the forth, the fifth, the minor fall and the major lift..."), dann würde jemandem, der sich nicht mit Musiktheorie auseinander setzt, vielleicht (!) schwer was entgehen! Wer bei Programmmusik nicht weiß, was da musikalisch beschrieben wird, weiß nichts um eine Intention des Künstlers (ob die nun entscheidend für den Rezipienten ist oder nicht wäre eine Wertung, also lasse ich die außen vor). Was alles total okay ist, wenn die Person das so wünscht; keine Wertung, kein Stein! ;)

Jedenfalls wäre es toll, wenn wir hier diesen Dissens vermeiden können, da es ihn schlicht nicht gibt. Nur weil jemand etwas erklären und/oder verstehen können möchte, zerstört er damit kein Werk und auch nicht den kreativen Prozess im Allgemeinen.

Ich hoffe, mich hier verständlich ausgedrückt zu haben, viel wichtiger jedoch: Niemandem vor den Kopf gestoßen oder gar verletzt zu haben, denn dieser Thread soll nicht spalten, sondern versöhnen. :prost:

Lieben Gruß,

Batz.
"Lennon was the soul of the Beatles, Harrison was the spirit, Paul was the heart, and Ringo was the drummer."

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Loki
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Re: Allgemeine Gedanken zur Musiktheorie & musikalischer Pra

Beitrag von Loki » Mittwoch 6. Februar 2019, 10:25

Als bekennender Verfechter der These "Theorie bringt was" kann ich nur zustimmen. Es mag sicher Menschen geben, die ein natürliches Gefühl haben, was gerade passt. Oder genug Erfahrung. Mir fehlt beides. Und genau da hilft mir die Theorie, die, einmal verinnerlicht, auch mal spontan einen Song zu transponieren. Ich finde das Aha-Erlebnis in diesem Viedeo passend, ging mir genauso (ab ca. Minute 30)

Lust ist, wenn ich spiele. Frust ist, wenn ich mich höre

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tommy
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Re: Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Prax

Beitrag von tommy » Mittwoch 6. Februar 2019, 10:41

Micky, ich gebe Dir vollumfänglich Recht!

Sorry, wenn ich im SOTW Thread sehr platt aufgeschlagen bin.
Bin manchmal zu sehr der "Flachköpper macht Laune" Typ, das sehe ich ein! ;)

:prost:
LG, Tommy


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Batz Benzer
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Re: Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Prax

Beitrag von Batz Benzer » Mittwoch 6. Februar 2019, 10:45

Bitte nicht enschuldigen: Wie schlimm wäre es, wenn jeder Physiker, der sich mit Wasser beschäftigt, keinen Spaß mehr am Flachköpper hätte...? :prost:
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Armint
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Re: Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Prax

Beitrag von Armint » Mittwoch 6. Februar 2019, 11:08

Batz Benzer hat geschrieben:... schrieb viel ...
Sehr schön geschrieben und erklärt.
So "verstehe" ich Musik auch.
Vielleicht sollte ich (noch) etwas mehr Harmonielehre pauken, aber mein Bauchgefühl war schon immer gut sowohl was Harmonien als auch Rhythmus betrifft.
Ist man deshalb ein schlechterer Musiker als der, der alles erklären kann?
Ein Bass hat 4 Saiten. Alles andere ist Schnullibulli.
Gear: Gitarren und Bässe von u.a. Fender, Hagström, Höfner, MusicMan, PRS, Sandberg, Taylor, Tokai. Amps/Boxen von Basstown, Fender, Glockenklang, Roland.

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Batz Benzer
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Re: Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Prax

Beitrag von Batz Benzer » Mittwoch 6. Februar 2019, 11:17

Genau, eben nicht; und genau darum geht es ja: Was habe ich z.B. schon für tolle Songs von Erstkomponisten gehört, die eben noch nicht "verdorben", sondern im rein positiven Sinne "naiv" (im Sinne von "unbefleckt", nicht "doof") waren, bzw. sich das ein Musikerleben lang erhalten haben?

Jeder Musiker sollte selbst bestimmen, was er "braucht" und was nicht. Ich muss und will das nicht alles im Vorfeld wissen und verstehen, aber bisweilen interessiert es mich.

Daher auch mein Ansatz als Lehrer, Phänomene nicht im Vorfeld zu erklären, sondern darüber aufzuklären, wenn es Sinn macht oder gewünscht ist. ;)

Danke jedenfalls für Dein Feedback!

Lieben Gruß,

Batz. :smoke01:
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Re: Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Prax

Beitrag von Surfcaster » Mittwoch 6. Februar 2019, 11:47

Ich spiel seid bald 30 Jahren. Von sieben bis vierzehn hatte ich damals Unterricht.

Danach in einer Band für 12 Jahre, fast jeden zweiten Tag gespielt.
Danach nur noch ab und zu zuhause gezockt. Theorie war mir immer irgendwie fremd. Ist es heute leider noch.
Immer aus dem Bauch heraus gespielt.
Seid anderthalb Jahren wieder Unterricht.
Ich muss sagen was ich da jetzt lerne in Bezug auf Pentatonik Fingersätzen ist enorm und gar nicht so einfach.
Aber....es hilft enorm sich auch mit der Theorie auseinander zu setzen.
Auch wenn es irgendwie ein Buch mit sieben Siegeln bleibt... Mein Lehrer verzweifelt auch manchmal an mir :smoke01:


Musiktheorie ist ohne Praxis nix. Aber anders herum genauso wenig..... :mosh:
Batz voll zustimm...

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Re: Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Prax

Beitrag von Wizard » Mittwoch 6. Februar 2019, 12:32

Know what you're doin' - so zumindest seh ich das. Soll heißen, eine gewisse Kenntnis in der Musiktheorie kann nicht schaden.

Ich möchte das aber nicht verallgemeinern, denn es gibt großartige Musiker ohne jegliches theoretisches Wissen.

Dieser Thread ist, sorry, irgendwie missverstänlich, obwohl mir schon klar ist was du damit sagen willst, Micky :thumbsup03:
Gruß Peter

immer noch aktuell: >>> leben und leben lassen <<<

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Batz Benzer
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Re: Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Prax

Beitrag von Batz Benzer » Mittwoch 6. Februar 2019, 13:07

Mich würde brennend interessieren, was wie warum missverständlich ist, Peter, denn nur so kann man es klären. :thumbsup03:
Surfcaster hat geschrieben:Musiktheorie ist ohne Praxis nix. Aber anders herum genauso wenig..... :mosh:
Batz voll zustimm...
Hier könnte bereits ein Missverständnis vorliegen.

Ein Beispiel für den nicht musizierenden Musikwissenschaftler: Ein Kumpel von mir hört sehr gerne wie bewusst Musik und interessiert sich für wissenschaftliche Zusammenhänge, so auch sehr für Musiktheorie. Er spielt aber selbst kein Instrument (hat mal Klavier gelernt, macht und kann das aber nicht mehr), setzt das Wissen also nicht aktiv um, versteht aber ELP-, Klassik-, Metal-, Jazz- wie Zappa-Stücke. Warum nicht...? :mrgreen:

Ein Beipiel für den "unwissenden" Musiker: Jack White ist wohl ohne Musiktheorie geworden, was er ist. Und auch andere Autodidakten schreiben großartige Nummern.

Soll heißen: Selbst die beiden Extreme machen m.E. nix "falsch" und können super nebeneinander existieren.

Damit mag ich Dir weder Deine Sichweise noch Meinung rauben, sie nur gegebenenfalls ein wenig von meiner abgrenzen. :prost:

Lieben Gruß,

Batz.
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Diet
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Re: Allgemeine Gedanken zu Musiktheorie & musikalischer Prax

Beitrag von Diet » Mittwoch 6. Februar 2019, 13:18

Sehr gut geschrieben, Batz :thumbsup03:

Vielleicht beruht solch Reagieren einfach nur darauf, dass sich manche "Bauchmusiker" minderwertiger oder abgehängt fühlen.
Die haben die "hohe Schule" der Theorie eben nicht so drauf und kommen nie in der Kreis der vermeintlich Besten, so vielleicht deren Denken.
Dieses "abgehängt fühlen" ist ja auch gerade in Sachen Politik und rechts und so ein aktuelles Wort. Das lässt Menschen offensichtlich
merkwürdig denken :?
(Damit meinte ich jetzt niemanden hier, möchte ich anmerken!)

Ich bin übrigens ganz klar Bauchmusiker :D
Als solcher war ich immer so bequem, mir nur so viel Theorie anzueignen, wie ich sie gerade unbedingt brauchte.
Das coole daran ist, dass sich so stressfrei und mit Spaß langsam immer mehr ansammelt :D

Gruß Diet

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